Sonntag, 25. Oktober 2009

Gewaltfreie Kommunikation im Schulalltag

Marshall B. Rosenberg
Erziehung, die das Leben bereichert - Gewaltfreie Kommunikation im Schulalltag
Junfermann Verlag, 176 Seiten, Kartoniert, ISBN: 3-87387-566-7, ISBN 13: 978-3-87387-566-1, 18,00 EUR
In diesem Buch erklärt Bestseller-Autor Marshall B. Rosenberg, wie Interesse und Leistungsfähigkeit gefördert, eine sichere und unterstützende Lernatmosphäre geschaffen, emotionale Intelligenz, Respekt und Mitgefühl gestärkt, Konflikte gelöst und Gewalttätigkeit verhindert oder entschärft werden können. Wenn Schüler gerne lernen und Lehrer gerne lehren... Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein neuer Erziehungsansatz nötig, der allen Mitgliedern einer lernenden Gemeinschaft dient. Marshall B. Rosenberg beschreibt in seinem Buch, wie diese Vision realisiert werden kann. Der von ihm dargestellte Erziehungsansatz basiert auf Beziehungen zwischen Schülern, Lehrern, Verwaltungsmitarbeitern und Eltern, die von gegenseitigem Respekt geprägt sind. Es geht darum, neuartige und effektive Arten des Kontakts und des Miteinanders zu entwickeln, weil nur so außergewöhnliche Schulen entstehen können, die den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht werden ...
Aus dem Inhalt: Auf dem Weg zu einer Erziehung, die das Leben bereichert - Organisationen, die das Leben bereichern - Lebensbereichernde Erziehung - Das System verändern
Lebensbereichernde Inhalte vermitteln - Die Schüler/innen vorbereiten - Die Auswirkungen moralischer Urteile auf das Lernen - Einschätzung schulischer Leistungen auf der Basis von Wertvorstellungen - Bausteine der gewaltfreien Kommunikation - Klar beobachten, ohne Bewertungen mit einfließen zu lassen - Übung 1 - Beobachtung oder Bewertung? - Gefühle wahrnehmen und ausdrücken - Übung 2 - Gefühle zum Ausdruck bringen - Was wir riskieren, wenn wir unsere Gefühle nicht ausdrücken - Wie wir unsere Gefühle mit unseren Bedürfnissen verbinden können - Was braucht ihr? - Übung 3 - Zu Bedürfnissen stehen - Um das bitten, was das Leben schöner macht - Der Unterschied zwischen Bitten und Forderungen - Übung 4 - Bitten ausdrücken - Der Prozeß ist das Ziel - Menschen können immer Forderungen hören - egal was wir sagen
Aussagen einfühlsam hören - Empathie (= Einfühlsamkeit) - Verbal spiegeln, was wir hören - Auf Bitten hören - Empathisch in Kontakt treten - Mit anderen empathisch Kontakt aufnehmen, wenn sie nicht wissen, wie sie sich ausdrücken sollen oder wenn sie das nicht möchten - Übung 5 - Empathisches von nicht-empathischem Aufnehmen unterscheiden
Wie sich partnerschaftliche Beziehungen zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen aufbauen lassen - Partnerschaftliches Aufstellen von Zielen und Beurteilungskriterien - Lebensbereichernde Ziele - Schüler/innen hatten schon immer Wahlmöglichkeiten - Die Angst der Lehrer/innen, Schüler/innen an der Festlegung von Zielen zu beteiligen - Beispiele für gemeinschaftliches Aufstellen von Zielen - Das Bedürfnis hinter dem "Nein" hören - Übung 6 - Das Bedürfnis hinter dem "Nein" hören - Der wichtigste Teil des Lernens - Die Ängste der Schüler/innen, sich an der Festlegung von Zielen zu beteiligen - Partnerschaftliche Beurteilung von Leistungen - Verantwortlichkeit: "Ja", Zensuren: "Nein"
Der Aufbau einer Gemeinschaft Lernender auf der Grundlage gegenseitiger Verbundenheit - Der Aufbau einer Gemeinschaft Lernender im Sinne gegenseitiger Verbundenheit - Materialien, die es Schüler/innen ermöglichen, selbständig zu lernen - Die örtliche Umgebung als Lern-Ressource nutzen
Schulen transformieren - Die Probleme unserer Zeit - Dominanzorientierte Organisationen - Konfliktlösung - Mediation - Moralische Urteile und Diagnosen vermeiden - Die beschützende Anwendung von Macht - Übung 7 - Beschützende Machtausübung vs. bestrafende Machtausübung - Unterstützungsgruppen aufbauen - Wie wir unsere Schulen transformieren können
Aus dem Vorwort von Ingrid Holler: Als ich Anfang der achtziger Jahre mein Referandariat an einem Gymnasium antrat, übergab man mir einen Grundkurs Englisch, an dem junge Referendarinnen nach gängiger Ansicht nicht viel falsch machen konnten, weil da sowieso schon Hopfen und Malz verloren war. Das schien sich an meinem ersten Tag auch zu bestätigen, denn von 16 Schüler/innen sprachen nur noch drei, davon stotterte eine - der Rest war in tiefes Nachdenken versunken. Ich wunderte mich, denn Englisch ist keine besonders schwere Sprache, da sind 5-7 Jahre Unterricht nicht zu wenig, um ein paar Sätze fließend zu sprechen. Außerdem wirkten die Schüler/innen auf mich weder gestört noch behindert. Im Gegenteil: Kaum klingelte es zu Pause, verwandelten sie sich in muntere 17-Jährige, die sich angeregt unterhielten.
Warum verweigerten sie sich dann der Englischen Sprache? Nach kurzer Beobachtungszeit ging mir ein Licht auf: Ihr Schweigen bot ihnen Schutz. Schutz davor, sich beim "Ti-eitsch" und anderen Zungenbrechern lächerlich zu machen, Schutz davor, zu versagen, Fehler zu machen, vor den anderen blöd dazustehen. So vollzogen sie tagtäglich, was ihnen immer wieder bescheinigt wurde: Sei froh, wenn es in Englisch für den Hausgebrauch reicht und du auf Besuch im fremden Land halbwegs überlebst.
Ich fing an, mit ihnen darüber zu sprechen, drückte meine Unsicherheit und auch mein Wohlwollen aus und sagte ihnen, daß ich sicher bin, daß jemand, der eine so schwere Sprache wie Deutsch ganz ohne Schule mit etwa vier Jahren bereits fließend sprechen konnte, auch Englisch sprechen lernen kann. Dann gestaltete ich den Unterricht so, daß er streckenweise von den Schüler/innen selbst übernommen wurde, indem sie z.B. einander Fragen stellten und selbst beurteilen durften, ob eine Antwort sachlich ausreichte oder ob sie noch einmal nachfragen wollten. Es stellte sich heraus, daß sie diese Autorität sehr wohl besaßen. Allmählich gewannen sie Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, und es fing ihnen sogar an Spaß zu machen, auf Englisch miteinander zu sprechen. Nebenbei entwickelte sich unter uns allen eine Beziehung, in der die Angst immer weniger eine Rolle spielte. So fanden die Schüler/innen einen Weg, am Fach Englisch Freude zu gewinnen, auf Beziehungen zu vertrauen und teilweise so gute Leistungen zu bringen, daß drei von ihnen im neuen Schuljahr in Englisch als Leistungs- und Abiturprüfungsfach wechselten. Aus dieser und ähnlichen Erfahrungen zog ich einerseits den Schluß, daß Angst, die Angst nicht zu genügen oder etwas falsch zu machen und daraus negative Konsequenzen zu erleiden, einer der größten lern- und beziehungshemmenden Faktoren ist. Und andererseits wurde mir klar, daß unsere Aufgabe in der Arbeit mit jungen Menschen darin liegt, ihr Vertrauen in die interdependenten Beziehungen mit Menschen zu entwickeln, ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie Konfliktlösungen partnerschaftlich gestalten können und ihnen das Lernfeld anzubieten, das in ihrem späteren Leben von Nutzen sein wird.
Deshalb freue ich mich besonders über das vorliegende Buch von Marshall Rosenberg. Es zeigt ganz deutlich auf, daß der Versuch, junge Menschen durch moralische Urteile und Strafen positiv beeinflussen zu wollen, für alle zu einem anstrengenden Verliererspiel werden kann, in dem sich die guten Absichten, aus denen heraus die Beteiligten handeln, selten wie gewünscht verwirklichen.
Marshall Rosenberg lädt uns auf einen anderen Weg ein, auf dem Schüler/innen und Lehrer/innen eine gleichwertige Partnerschaft eingehen, die es möglich macht, die vorhandenen Potentiale zu nutzen und für alle fruchtbar einzubringen. Selbstverantwortliches Lernen im Vertrauen darauf, daß auch Schüler/innen gerne Neues lernen und ihre Welt erforschen, führt zu einem Verständnis von Autorität, die rein sachlich begründet ist und von der gerne gelernt wird, sei es eine Lehrerin oder ein Schüler. Das ist für die Schüler/innen und die Lehrer/innen gleichermaßen gewinnbringend. Marshall Rosenberg ist ja bekannt dafür, seine Visionen in machbare Schritte zu übersetzen. Auch beim Thema Erziehung ist ihm das wieder gut gelungen. In praktikablen Schritten zeigt er den Weg von der Welt des "richtig und falsch" in die Welt von "was brauchen wir" und "was können wir tun", um das Leben aller Beteiligten in der Schule fruchtbar zu machen. Wir können eigentlich sofort damit beginnen.
Leseprobe: Als Lehrer können wir Schüler/innen darauf vorbereiten, in lebensbereichernden Organisationen aktiv mitzuarbeiten oder selbst welche zu gründen, indem wir uns sprachlich so ausdrücken, daß wir in jedem Moment eine echte Verbindung miteinander haben. Diese Sprache nenne ich Gewaltfreie Kommunikation. Wenn wir sie sprechen, können wir Lehrer/innen und Schüler/innen zu Partner/innen machen, Schüler/innen Werkzeuge an die Hand geben, mit deren Hilfe sie ihre Meinungsverschiedenheiten ohne Streit und Kampf beilegen können, Brücken zwischen Kontrahenten wie Eltern und Schulkollegien bauen und unser eigenes Wohl wie auch das anderer fördern. Nun werden Sie sich vielleicht fragen: Weshalb erlernen wir diese wundervolle Sprache nicht alle möglichst schnell und sprechen sie in unserem Alltagsleben?
Unglücklicherweise hat uns die Sprache, die wir erlernt haben, dazu gebracht, unsere eigenen Handlungen wie auch die anderer mit moralisierenden Kategorien wie "richtig/falsch", "korrekt/unkorrekt", "gut/schlecht", "normal/abnorm", "angemessen/unangemessen" zu beurteilen.
Weiterhin sind wir dazu erzogen worden zu glauben, daß Menschen, die Autoritätspositionen innehaben, wissen, welches Urteil in einer bestimmten Situation zutreffend ist. Falls wir zu jenen zählen, die als "Lehrer/in" oder "Schuldirektor/in" bezeichnet werden, dann glauben wir, daß wir wissen sollten, was für alle unsere Mitarbeiter/innen das Beste ist, und wir sind schnell bei der Hand, diejenigen, die unseren Auffassungen nicht zustimmen, als "unkooperativ", "Störer" oder gar als "emotional gestört" zu bezeichnen. Andererseits bezeichnen wir auch uns selbst als "uneffektiv", wenn unsere Bemühungen erfolglos bleiben. Daß wir gelernt haben, Sprache auf diese Weise einzusetzen, trägt zu jener Unterwürfigkeit Autoritätspersonen gegenüber bei, auf der Dominanzsysteme gründen.
Ich wurde einmal in einer Radio-Sendung von einem Moderator gefragt: "Was würde Ihrer Meinung nach den Frieden auf Erden am meisten fördern?" Ich antwortete: "Wenn wir den Menschen beibringen könnten, nicht im Sinne moralischer Urteile wie >>richtig/falsch<<, >>gut/schlecht<< zu denken, sondern von ihren Bedürfnissen auszugehen." Wow! Sie hätten sehen sollen, was für eine Lightshow diese Antwort auf dem Gesicht meines Gegenübers auslöste! Viele Menschen bekommen es mit der Angst zu tun, wenn sie mich - wie sie meinen - empfehlen hören, man solle keinerlei Urteile fällen, und deshalb glauben, ich träte für eine generelle Laissez-faire-Haltung ein. Genau das Gegenteil ist der Fall: Menschen, die an das glauben, woran ich glaube, haben feste Überzeugungen und solide Wertvorstellungen, doch ihre Urteile basieren auf diesen Werten, nicht auf moralischen Urteilen.
Deshalb fällt es den meisten Menschen nicht schwer, die Sprache der Gewaltfreien Kommunikation zu erlernen. Schwierig ist für sie nur, die Sprache des moralischen Urteilens, die Sprache der Beherrschung zu verlernen.

Keine Kommentare: