Freitag, 13. November 2009

Weihnachtsaktion 2009/2010: "Heilpädagogik in Sibirien"

Wir bedanken uns sehr herzlich bei Herrn Jürg Vollmer
dem Verfasser des nachfolgenden Beitrages (2008), für die Erlaubnis, ihn hier wiedergeben zu dürfen. Herr Vollmer betreibt den Social Media Newsroom maiak (Leuchtturm) und plant, dort im Dezember 2009 ein Dossier "Weihnachten" zu veröffentlichen:

Wie kam der Weihnachtsbaum nach Russland?
Das Lied vom Tannenbaum * Ëлочка
Publiziert am 24. Dezember 2008 von Krusenstern

… Bevor russophile oder russophobe Etymologen und Ethnologen jetzt einen Herzinfarkt bekommen, eine sprachliche Präzisierung: In der russischen Sprache gibt es keinen Weihnachtsbaum, sondern den Neujahrsbaum – oder in Russisch eine ёлка * Jolka.

Die Jol oder Jul war in vorchristlicher Zeit ein Gelage in der Mittwinternacht am 21. oder 22. Dezember, später in christlichen Zeiten am Heiligabend. Von einem Tannenbaum war damals nicht die Rede, denn dieser galt als ein Symbol für Krankheit und Tod, und statt Weihnachten und Neujahr wurden Ende Dezember heidnische Bräuche gefeiert.

1699: Wie Zar Peter der Grosse den Weihnachtsbaum nach Russland brachte

Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts feierten die Russen das Neujahr nämlich am 1. September, dem "Tag der Schöpfung der Welt". Einer von vielen alten Zöpfen, die Zar Peter der Grosse mit rücksichtslosen Reformen abschnitt, um Russland in einen modernen Staat zu verwandeln. Ausgerechnet der Reform-Zar führte aber den veralteten Julianischen Kalender in Russland ein, der im restlichen Europa seit dem 16. Jahrhundert sukzessive durch den Gregorianischen Kalender abgelöst wurde.

Mit dem Julianischen Kalender bestimmte der Zaren-Erlass von 1699 auch, dass das neue Jahr am 1. Januar gefeiert werden sollte. Der christliche Heiligabend und das Neujahr fielen damit in die Swjatki * Святки. In diesen heidnischen zwölf Rauhnächten steht im Volksglauben die Tür zum Geisterreich weit offen. Ein Graus für den kultivierten Zaren, weshalb Peter der Grosse ein striktes Verbot erliess, die Swjatki in “ketzerischer Manier” zu feiern: “Am Vorabend der Geburt Christi und in Zeiten der Swjatki sind Götzendienste, Spielereien, Verkleidungen und Maskierungen als auch Tänze in den Gassen sowie verführerische Lieder zu unterlassen.” Gleichzeitig führte er den Weihnachtsbaum ein.

Statt wilder Saufgelage und lustvoller heidnischer Geisteraustreibung auf den Strassen sollten die Russen zu Hause einen Tannenbaum aufstellen und sich in christlicher Kontemplation üben? So wie es der Zar und Zimmermann während seiner “Lehrzeit” in Amsterdam gesehen hatte? Die Russen liessen sich von Zar Peter dem Grossen notgedrungen viel gefallen, dass sie diesen Teil des Zaren-Erlass von 1699 befolgten, darf hingegen bezweifelt werden. Nur schon deshalb nicht, weil der Tannenbaum bei den russischen Bauern und Fischern seit jeher als ein Symbol für Krankheit und Tod galt.

1817: Die “deutsche” Zarin etablierte den Weihnachtsbaum in Russland

Nach den eher erfolglosen Versuchen von Zar Peter dem Grossen hatte ein Jahrhundert später die “deutsche” Zarin Alexandra Feodorowna mehr Erfolg, den Weihnachtsbaum in Russland zu etablieren. Nach ihrer Heirat mit Zar Nikolaus I. im Jahre 1817 litt Prinzessin Charlotte von Preussen an Heimweh und liess deshalb die reich gedeckten Festtags-Tafel im Sankt Petersburger Winterpalast (der heutigen Eremitage) mit kleinen Tännchen schmücken, an denen Kerzen flackerten.

Wie zu Hause legte die “deutsche” Zarin Alexandra Feodorowna kleine Geschenke unter die Tännchen oder hängte diese an den kleinen, feinen Tannenzweigen auf. Weil die Geschenke für die gesamte Zarenfamilie von Jahr zu Jahr grösser wurden, mussten auch immer grössere Tannenbäume im Winterpalast aufgestellt werden, bis eine riesige Tanne mitten im Festsaal stand – und im Kerzenlicht glitzerte. Denn dass im Winterpalast weltweit erstmals glitzernde Sterne, Flittergold und vergoldete Nüsse an den Tannenzweigen aufgehängt wurden, erklären Historiker durchaus plausibel.

So wie es auch plausibel ist, dass nach der Zarenfamilie der ganze Hofstaat einen glitzernden Weihnachtsbaum wollte, und nach den Hofschranzen ganz Sankt Petersburg und dann ganz Russland. Schliesslich liess die Zarenfamilie jedes Jahr rund 4.000 (!) Sankt Petersburger Einwohner in den Winterpalast ein, die den Weihnachtsbaum der Zarenfamilie bewundern durften. Aus dem dunklen Symbol für Krankheit und Tod wurde so durch das “leuchtende” Beispiel der Zarin eine beliebte christliche Tradition, die Jolka .......
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1917: Die Bolschewisten schickten den Weihnachtsbaum in die “Verbannung”

Noch einmal ein Jahrhundert später was es aus mit Glitter und Glamour. Nach der Oktoberrevolution von 1917 wurde die Zarenfamilie brutal ermordet. Die Bolschewiki führten im “neuen Zeitalter” konsequenterweise zuerst den Gregorianischen Kalender ein, dann verbannten sie zusammen mit den Erinnerungen an die Zaren auch die Religion aus den Köpfen der Sowjetbürger.

Die atheistischen Revolutionäre verboten als “Überbleibsel der bourgeoisen Denkweise” das Jolka-Fest – und damit auch den Weihnachtsbaum. Eltern durften ihren Kindern keine Geschenke mehr geben und in den Städten war der Verkauf von Weihnachtsbäumen strengstens verboten. Nicht einmal die Bauernfamilien auf dem Land durften sich einen Tannenbaum aus dem Wald holen. Der Weihnachtsbaum wurde in die “Verbannung” geschickt.

1937: Ausgerechnet Stalin holt den Weihnachtsbaum zurück

Bis der Schriftsteller Michail Bulgakow * Михаил Афанасьевич Булгаков im Oktober 1926 die Uraufführung seines Stücks “Die Tage der Turbins” * “Дни Турбиных” feierte: Im Moskauer Künstlertheater * Московский художественный театр МХАТ stand im zweiten Akt plötzlich ein richtiger Weihnachtsbaum auf der Bühne. Eine veritable Tanne mit Kerzen, bunten Bändern und brennenden Wachskerzen an den grünen Zweigen. Das ganze Theater roch nach diesen Tannenzweigen und Kerzen!

Fast jeden Abend fielen deswegen Zuschauer in Ohnmacht, weshalb während der Vorstellungen ein Rettungswagen vor dem Theater wartete. “Die Tage der Turbins” feierten aber einen Riesenerfolg und vor allem einem Sowjetbürger gefiel der Anblick: Der sowjetische Diktator Josef Stalin sah sich das Stück fünfzehn Mal an und entschied möglicherweise deshalb, den Tannenbaum zu “rehabilitieren”.

В дореволюционное время буржуазия и чиновники буржуазии всегда устраивали на Новый год своим детям ёлку. Дети рабочих с завистью через окно посматривали на сверкающую разноцветными огнями ёлку и веселящихся вокруг неё детей богатеев.
Почему у нас школы, детские дома, ясли, детские клубы, дворцы пионеров лишают этого прекрасного удовольствия ребятишек трудящихся Советской страны? Какие-то, не иначе как «левые» загибщики ославили это детское развлечение как буржуазную затею.
Следует этому неправильному осуждению ёлки, которая является прекрасным развлечением для детей, положить конец. Комсомольцы, пионер-работники должны под Новый год устроить коллективные ёлки для детей. В школах, детских домах, в дворцах пионеров, в детских клубах, в детских кино и театрах — везде должна быть детская ёлка! Не должно быть ни одного колхоза, где бы правление вместе с комсомольцами не устроило бы накануне Нового года ёлку для своих ребятишек. Горсоветы, председатели районных исполкомов, сельсоветы, органы народного образования должны помочь устройству советской ёлки для детей нашей великой социалистической родины.
Организации детской новогодней ёлки наши ребятишки будут только благодарны.
Я уверен, что комсомольцы примут в этом деле самое активное участие и искоренят нелепое мнение, что детская ёлка является буржуазным предрассудком.
Итак, давайте организуем весёлую встречу Нового года для детей, устроим хорошую советскую ёлку во всех городах и колхозах! Prawda, 28. Dezember 1935

Im Dezember 1935 stellte Stalins berüchtigter Sekretär Alexander Poskrebyschew * Александр Николаевич Поскрёбышев in einem Prawda-Artikel die rethorische Frage: “Warum haben wir den Arbeiter-Kindern in den Schulen, Waisenhäusern, Kindergärten, Kinder-Clubs, und Volkspalästen die Freude des Tannenbaumes geraubt? Also lasst und ein fröhliches Neujahrsfest organisieren für unsere Kinder mit einen guten sowjetischen Neujahrsbaum in allen Städten und kollektiven landwirtschaftlichen Betrieben!”

Zweifellos rethorisch war die Frage, weil schon ein paar Wochen später in der Prawda ein Foto erschien, auf welchem der Sohn des Nordpol-Fliegers Michail Babuschkin * Михаи́л Серге́евич Ба́бушкин unter einem geschmückten Tannenbaum “seinen Eltern und allen Eltern der Welt” alles Gute für das neue Jahr wünscht.

Die Familie des sowjetischen Nordpol-Piloten Babuschkin mit Weihnachtsbaum

Und schon ein Jahr später wurde im Januar 1937 der erste “offizielle” sowjetische Tannenbaum im Säulensaal des Moskauer Дома союзов * Haus der Gewerkschaften aufgestellt. Die 15 Meter hohe Tanne durfte aber kein Weihnachtsbaum sein, in der Wochenschau “Советский Союз” * “Sowjetski Sojus” wurde die Tanne deshalb nach der neuen Sprachregelung als Neujahrsbaum bezeichnet. Den Sowjetbürgern war das aber egal, schon im darauf folgenden Jahr feierte man in ganz Russland wieder das Jolka-Fest.

Der erste Weihnachtsbaum im Moskauer Haus der Gewerkschaften

1991: Das Weihnachtsfest kehrt nach Russland zurück

Den Weihnachtsbaum bekamen die Russen unter Stalin also zurück, das christliche Weihnachtsfest war in der atheistischen Sowjetunion aber weiterhin verboten. Erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 kehrte das Weihnachtsfest nach Russland zurück.

Wobei die meisten Familien weiterhin eher Neujahr feiern, als Weihnachten – und deshalb auch einen Neujahrsbaum in der Stube stehen haben. Am Silvesterabend halten sich aber Kinder und Erwachsene wie früher an den Händen, tanzen einen Reigen um den Baum und singen das dazu das Lied vom kleinen Tannenbaum Jolka.


Hier der Text in Deutsch und Russisch

Tannenbaum

Im Walde steht ein Tannenbaum
im immergrünen Kleid,
ist schlank und lieblich anzuschaun
zu jeder Jahreszeit.

Horch, unter Kufen knirscht der Schnee,
er glitzert weiss und kalt,
ein zottelbeinig Pferdchen zieht
den Schlitten durch den Wald.

Der Schlitten fährt, man hört es kaum,
drauf sitzt ein alter Mann,
er hat den kleinen Tannenbaum
gefällt im dichten Tann.

Nun steht das Tannenbäumchen hier,
gar festlich schön geschmückt,
hat alle Kinder hoch erfreut
und jedes Herz beglückt.

YouTube-Video: V lesu rodilas elochka performed by Moscow Oratorio Society

Ëлочка

В лесу родилась ёлочка,
В лесу она росла ,
Зимой и летом стройная,
Зелёная была.

Метель ей пела песенку:
“Спи, ёлочка, бай-бай !”
Мороз снежком укутывал:
“Смотри, не замерзай !”

Трусишка зайка серенький
Под ёлочкой скакал .
Порою волк , сердитый волк,
Рысцою пробегал.

Чу! Снег по лесу частому
Под полозом скрипит .
Лошадка мохноногая
Торопится , бежит.

Везёт лошадка дровеньки
А в дровнях старичок .
Срубил он нашу ёлочку
Под самый корешок .

Теперь она, нарядная ,
На праздник к нам пришла.
И много-много радости
Детишкам принесла.

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